Geboren ist Regula Odermatt-Bürgi am 2. Dezember 1944 als zweites Kind von Kuno Bürgi und Pia Bürgi-Caviezel. Kuno führte an der Buochserstrasse in Stans eine Arztpraxis, wo die Familie auch wohnte. Mit den Brüdern Jost (1943) und Jörg (1949) war die Kindheit in den ersten Jahren unbeschwert.
Bald schon musste das Mädchen Bürden tragen, die nicht für ein Kind gedacht sind: Regula war noch nicht acht Jahre alt, als Mutter Pia, nach längerer Krankheit, 1952 starb. Regula war die Stütze des Vaters und der Brüder. Zwei Jahre später begann ein neues Familiengefüge, mit der Stiefmutter Annie Bürgi-Kayser. Aus dieser Ehe gingen zwei Halbschwestern hervor, Pia 1955 und Chudi 1956. Sie war noch nicht 16, als 1962 auch Annie starb.
Ihre Matura machte sie im Internat Sainte-Croix in Fribourg. Das Leben in der Nonnenwelt war für die freiheitsliebende Regula nicht einfach, aber wichtige Frauenfreundschaften sind ihr aus dieser Zeit geblieben.
Josef Odermatt, damals von allen mit seinem Pfadi-Namen Mari genannt, hatte Regula an einer Fasnacht kennengelernt. Für sie war schnell klar, dass dies der Mann ihres Lebens war. Regula studierte mittlerweile in Zürich Kunstgeschichte, Germanistik und Ethnologie.
Als Partnerin war sie für Josef, seine Arbeit und seine Entwicklung als Künstler sehr wichtig. Ihr kunsthistorischer Hintergrund, ihr Interesse für Kunst und ihr feines Gespür für Ästhetik unterstützten ihn sehr. Sie ergänzten sich in ihren unterschiedlichen Charakteren – Josef, eher besonnen, ruhig, ängstlich, humorvoll, Regula emotional, bestimmend, impulsiv, wortgewandt.
1976 schloss Regula schloss ihr Studium mit dem Lizenziat ab: «Beinhäuser: Geschichte – Architektur – Funktion: unter besonderer Berücksichtigung der Innerschweizer Beinhäuser».
Als Fachperson für Beinhäuser, Totentänze und alles, was mit der Geschichte und Darstellung des Todes zu tun hatte, hat sie sich einen Namen gemacht. Ein Buch über Beinhäuser in Europa wurde 2020 gar ihr gewidmet – «Einem verwandten Geist, der unsere Bemühungen immer inspiriert und unterstützt hat.»
«Regula habe ich als anregende Kantonsbibliothekarin kennengelernt, die mich bei der Suche nach historischer Literatur kenntnisreich unterstützte – und mir so den Weg bahnte, die Geschichte um den ‹Franzosenüberfall› genauer zu verstehen und in der lokalen Umgebung auch szenisch/topographisch umzusetzen. Sie hat mir aber auch spannende Hinweise gegeben zu den religiösen und politischen Ritualen jener Zeit. Sie war dabei eine grandiose Erzählerin, die hinter den Sinn dieser Rituale blickte und mir dazu verhalf, auch den künstlerisch-poetischen oder eben: den theatralischen Hintergrund zu begreifen. »
Das Beinhaus von Unterschächen hat sie ein Leben lang fasziniert. Aus einer Vortragsreihe in Altdorf zu diesem Bau und seinen Darstellungen der sieben Todsünden ist eine vielbeachtete Publikation entstanden («Ein Schauwespihl bist der Eitelkeit …». Die Ikonografie des Beinhauses von Unterschächen und die barocken Jenseitsvorstellungen, 2002). Ob sie das Thema Sterben und Tod schon immer fasziniert habe, wollte Brigitt Flüeler im September 2020 an einem öffentlichen Gespräch im Museum von ihr wissen. Sie denke schon, sagte Regula (siehe Zitat).
Sie war 1986 Gründungsmitglied der Internationalen Totentanzvereinigung («Danses macabres»). Gerne reiste sie zu deren jährlichen Treffen irgendwo in Europa. Noch im März 2020 erschien im Rundbrief der Schweizer Totentanzvereinigung ein Artikel über den Totentanz San Peyre im Valle di Maira; dort war sie mit Tochter Lea zu Fuss unterwegs gewesen.
Aufgrund ihres Interesses für die lokale Kulturgeschichte war sie eine gute Wahl als Kantonsbibliothekarin. Mit grossem Engagement baute sie die Nidwaldner Kantonsbibliothek auf und leitete diese von Beginn 1970 an bis zur Pensionierung 2008. Sie konnte vielen Studierenden und Interessierten ihr enormes Wissen über die Geschichte und Kultur von Nidwalden weitergeben. Sie stand dabei auch in regem Austausch mit einigen der wichtigen Figuren der Nidwaldner Kulturlandschaft wie Jakob Wyrsch und Hans von Matt.
Regula war zu einer Zeit berufstätig, als dies für verheiratete Frauen noch nicht selbstverständlich war. Sie war in Nidwalden eine der Pionierinnen. Sie trug auch wesentlich zum Einkommen der Familie bei, während Josef, der sein Atelier zu Hause hatte, die Kinder weit häufiger betreute, als dies andere Männer taten.
Rochus kam 1977 zur Welt, 1978 folgten Lea und 1980 Thaïs. Den Kindern ermöglichten die Eltern ein Leben, wie man es sich, so scheint es, nur wünschen konnte: Sie waren viel draussen, hatten beide Elternteile um sich, machten abenteuerliche Reisen und waren gemeinsam an der Fasnacht unterwegs. Kunst und der Kunstbetrieb gehörten immer auch dazu. Rochus genoss es, gemeinsam mit Regula und Josef Ausstellungen einzurichten. Alle erinnern sich auch besonders ans Erzählen: Regula konnte wunderbar Märchen und Geschichten erzählen. Sie erzählte dann auch gerne mal von blutigen Schlachten und gefährlichen Abenteuern. Thaïs waren die Gespräche über ihre Film- und Kunstprojekte wichtig. Mit Lea teilte sie die Liebe zur Natur und dem Draussen-unterwegs-sein. Gemeinsam unternahmen sie Hochtouren in den Alpen, Gletscherüberquerungen, aber auch lange Velotouren und mehrtägige Wanderungen.
Gerechtigkeitssinn und Mut führten sie wie selbstverständlich zum politischen Engagement, und ihr Talent zum Schreiben, Reden und Erzählen waren dabei nützlich.
Sie gehörte 1981 zu den Gründerinnen des Demokratischen Nidwalden (einer linksgrünen Partei, die 2005 Teil der Grünen Partei wurde), für die sie von 1990 bis 1994 im Landrat sass.
Sie war Initiantin des Kampfes gegen den Sondierstollen der NAGRA für ein Atomendlager am Wellenberg. Das war 1986; Regula war damals Präsidentin des DN. MNA, das Komitee für die Mitsprache des Nidwaldner Volkes bei Atomanlagen, war geprägt von den Frauen, entwickelte sich zu einer breiten lebendigen Bewegung und führte letztendlich zum Erfolg. Im Gespräch mit Brigitt Flüeler sagte sie dazu:
«Für den Sieg, den wir nach Jahren errungen haben, waren jeder und jede wichtig. Es ist nicht so, dass nur die Intellektuellen und die Juristen eine Rolle gespielt haben. Natürlich waren diese sehr wichtig. Sie haben die Grundlagen geschaffen. Aber mit Intellekt allein gewinnt man keine Abstimmung und schon gar nicht eine Abstimmung an der Landsgemeinde. Es braucht auch Emotionen. Bei diesem Widerstand gegen die NAGRA haben auch alle Generationen mitgemacht, jeder hat mitgemacht, jede hat mitgetragen, aber es waren vor allem – und davon spricht heute niemand mehr – es waren vor allem die Frauen, die den Ausschlag für das NEIN gegeben haben.»
Leo Odermatt, Regierungsrat des DN und langjähriger politischer Mitstreiter, schreibt:
«Es entsprach nicht Regulas Art, sich in einem politischen Amt zu verwirklichen, Macht und Einfluss waren ihr suspekt, elitäres Gehabe stiess sie ab. Regula konnte bei sich grosse Kräfte und Energie mobilisieren, wenn etwas ihrer Meinung nach falsch lief, und sie ruhte nicht, bis sie einen möglichen Prozess zur Änderung in Gang gesetzt hatte.»
Und weiter:
«In der Öffentlichkeit fand sie ihre ureigene Rolle, wo sie ihre Stärken gezielt einsetzten konnte. Diese Stärke war das Wort. Regula hatte die Gabe, Sachverhalte schonungslos, gekonnt und mit überraschenden Sichtweisen auf den Punkt zu bringen. Ihre Gedanken und Meinung zu aktuellen Themen, die als Leserbriefe erschienen, waren literarische Meisterwerke und ein Genuss zum Lesen. Zur Zeit der Landsgemeinde hat sie ihre Reden auch selber auf dem Herdplättli – dem Rednerpodest – vorgetragen und bereits nach den ersten Sätzen wurde es im Ring mäuschenstill.»
An der Landsgemeinde hat sie sich 1982 für ein familienfreundliches Steuergesetz, 1984 gegen den Bau einer Fischzuchtanstalt, 1987 gegen die Finanzierung der kantonalen Aktivitäten zum Jubiläum ‘700 Jahre Eidgenossenschaft’ und 1991 für die Änderung des Energiegesetzes ausgesprochen. In den vier Jahren im Landrat war sie stets gut vorbereitet und argumentierte klar und fundiert. Sie hat viele erreicht mit ihrer Direktheit, eckte aber auch an. Sie konnte ihre Anliegen vehement und fordernd verteidigen, was manchmal auch überforderte – und auch verletzen konnte.
Die Sache der Frau lag ihr sehr am Herzen. Mit ihrer kämpferischen, direkten Art und dem politischen Mut war sie für viele junge Frauen ein Vorbild. So war sie 1997 auch Gründungsmitglied des Vereins «Frauen in Nidwalden und Engelberg – Geschichte und Geschichten» (heute: Verein Frauenspuren).
Josefs Krankheit und sein Tod 2011 waren einschneidend für Regula und die Familie, deren Verhältnis zueinander sehr eng war. Regula verbrachte oft Zeit mit den Grosskindern. Sie ging auf Wanderungen, auch mit dem SAC. An schönen Sommerabenden fuhr sie fast täglich mit dem Velo nach Buochs, um im See kilometerweit zu schwimmen. Sie besuchte gerne Ausstellungen in den Museen der ganzen Schweiz (Vernissagen mochte sie nicht), und sie suchte auch immer wieder historisch wertvolle Kirchen und Kapellen auf.
Bis zuletzt hat sie Dorf- und Kirchenführungen gemacht, Vorträge gehalten und Artikel geschrieben. Seit längerem arbeitete sie auch am Nachlass von Hans von Matt (1899–1985), mit dem sie eine besondere Freundschaft verband. Ein Manuskript über die Jugendjahre und das Frühwerk des Stanser Künstlers ist unfertig geblieben.
Das Engagement für Geschichte, Kultur und Politik des Kantons Nidwalden war ihr wichtig. Weit über die Region hinaus war sie als tiefgründige und lebendige Wissenschaftlerin des Todes und seiner Darstellungen geschätzt. Dem Tod sah sie, die sich so intensiv mit seinen kulturellen und religiösen Ausprägungen befasste, gelassen entgegen. Sie wurde, wie gewünscht, zu Hause aufgebahrt.